Ansichtssache

Warum sie sich trafen, entzieht sich meiner Erkenntnis, ist beim genauen Nachdenken auch eigentlich gar nicht so interessant. Bestenfalls als Rahmenhandlung könnte ein begabterer Autor die näheren Umstände verwenden. Doch liefe er dann Gefahr, daß sich die eigentliche Handlung in dem Gestrüpp dieses Rahmens verfinge, unklar würde und letztlich den Leser nicht mehr fesselte.

Also lasse ich die Schilderung der näheren Umstände weg, der Leser möge sie sich einfach mit den unendlichen Unwägbarkeiten des Lebens selbst erklären. Mit Dingen also, die einfach geschehen, ohne ersichtlichen Grund. Dingen, die – sollte doch einmal irgendjemand auf den Gedanken verfallen, gerade diesen Grund aufzuspüren – sich letztlich als absolut bedeutungslos entpuppen; gerade wie der Unterschied zwischen naturähnlichen und naturidentischen Aromastoffen im Erdbeerjoghurt.

Sie trafen sich also, obwohl ihre Welten so unterschiedlich waren, wie nur denkbar. Sie, die eine, – nennen wir sie der Einfachheit halber Frau K. -war zu Hause in einer Welt von Küche, Kind und Kegel. – Sie, die andere, lebte in einer Welt von Nightlife, Nerz, Nepp und Netzstrümpfen. Wollen wir also unsere Fantasie nicht überstrapazieren und nennen sie Frau N.

Was also folgte, waren zwei Dennochs. Dennoch trafen sie sich. Dennoch kamen sie ins Gespräch.

„Netzstrümpfe muß ich auch immer anziehen!“, sagte Frau K. „Für meinen Karl-Heinz. Das macht ihn immer so wahnsinnig scharf. Ich find‘ die ja nun eigentlich ziemlich zum Kotzen, aber wo er mir doch erst neulich den Töpferkurs bezahlt hat… und die Töpferscheibe…“

„Kinder“, sagte Frau N., „wollte ich eigentlich auch haben, obwohl es dann ja doch alles ganz anders gekommen ist.“

„Ich weiß, die Drogensucht.“, erwiderte Frau K. „Eitsch heißt das doch, dieses Heroin. Ich lese ja schließlich Illustrierte. Mein Schwager – der ist Bereitschaftspolizist – sagt übrigens auch immer, die Kerls haben ihre Beschaffungskriminalität, die Mädels machen die Beine breit… Also – ich könnte das ja nicht.“

„Als ich achtzehn war, machte ich eine Lehre bei der Bank. D. h., ich fing gerade damit an, so direkt nach dem Abi.“ sinnierte Frau N. „Lief auch alles ganz pfiffig an, das erste mal richtig Geld und so. Nach einiger Zeit merkte ich dann, daß die Bank in ein Projekt eingestiegen war, bei dem es um die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Kernelementen ging. Radioaktives Material sollte durch unseren Ort gefahren werden. Und unser Filialleiter akzeptierte die neue Firmenstrategie ohne mit der Wimper zu zucken. Aber ich wollte doch Kinder haben. Kinder ohne verkrüppelte Hände und Füße. Gesunde Kinder…“

Mit sichtbarem Entsetzen rief Frau K.: „Ja, schlimm diese Sachen. Mein Schwager, also der andere Bruder von meinem Karl-Heinz, der ist Außendienstmitarbeiter beim größten Versicherungsunternehmen – ich habe jetzt leider den Namen vergessen – der sagt immer: `Irgendwann wird es einmal einen ganz großen Knall geben.‘ Kann einem richtig Angst machen so was. Aber was soll’s, wir brauchen ja den Strom. Irgendwann werden diese Dinger hoffentlich nicht mehr nötig sein, wir sparen doch schon kräftig Energie. Unsere zweite Tiefkühltruhe braucht zum Beispiel weit weniger Energie als die erste. Da haben wir auch lange nach gesucht, weil zwei mit dem Stromverbrauch von der alten, das ging doch nun beim besten Willen nicht – wegen dem Stromkreis – sagt Karl-Heinz. Weil doch in so’m Mietshaus eigentlich gar keine Tiefkühltruhe im Keller stehen soll.“

„Ich bin dann weg von der Bank,“ – so Frau N.- „habe in einem Anwaltsbüro gearbeitet. War eigentlich eine schöne Zeit. Bis dann die Geschichte mit dieser Giftgasfabrik passierte. Mein Anwalt hing mächtig drin, die ganzen Verträge liefen zur Tarnung über sein Büro. Da konnte ich mich doch nicht einfach hinsetzen und diese Dinger tippen. Ich mußte immer daran denken, wie schreckliche Verätzungen diese Granaten auslösen würden. Und die Opfer dieser Granaten würden aller Wahrscheinlichkeit Kinder und schwangere Frauen sein. Und ich wollte doch auch Kinder haben…“

„Oooooh ja!“, rief Frau K., „Da kann ich ein Lied von singen. Was meinen sie, wie die Lippen von unserem Klaus aussehen, wenn er wieder im Bausand vor diesem Akkumulatorenwerk gespielt hat. Total verätzt waren die, als er das letze Mal dort gewesen ist, zusammen mit Peter, seinem Klassenkameraden. Ich habe es ihm natürlich sofort verboten, dort zu spielen, aber es sind halt Kinder. Wegen dem Peter wollte ich mich sogar zusammen mit zwei anderen Eltern bei der Fabrik beschweren – immerhin wäre der arme Peter um ein Haar blind geworden. Schlimme Geschichte, dieses. Aber Karl-Heinz hat dann doch gesagt, besser ist nich‘, wegen seinem Arbeitsplatz, der ist doch im Moment so unsicher, und man weiß ja nie, ob man sich nicht doch einmal dort bewerben muß. Gerade jetzt, wo wir doch die neue Sauna gebaut haben. Und die Home-Entertainment-Anlage ist doch auch noch nicht abbezahlt.“

„Nach der Episode beim Anwalt habe ich dann Hamburger verkauft.“, erzählte Frau N. „Es war eine schwere Zeit. Ellenlange Arbeitszeiten mit wenig sozialem Engagement von Seiten des Arbeitgebers. Und dann dieser Hungerlohn. Aber den Ausschlag hat dann dieser Film gegeben über die Landlosen im Brasilien. Von ihren kargen Feldern vertriebene Familien, nur um Weiden einzurichten, für diese immensen Rinderherden. Ich verdiente mein Brot damit – ich wurde satt dadurch, daß andere hungerten. Zehn Brote könnte man backen für ein Kilo Rindfleisch. Kleine Kinder starben auf der Flucht, nur damit ich mir meinen Bauch vollschlagen konnte. Nein, um der Kinder willen, die ich haben wollte, das konnte ich nicht weiter mitmachen…“

„Landflucht ist eine üble Sache. Meine Eltern sind damals auch mit dem Treck von Schlesien gekommen. Nein, Grund und Boden sind in unseren beiden Familien heilig. Deshalb muß mein Schwager ja auch so oft raus und Bauplätze verteidigen. Sie glauben gar nicht, was für Ansichten gewisse Leute haben. Allgemeinwohl und so, wenn ich das schon wieder höre. Wir haben uns jetzt einen besonders hohen Zaun gebaut, damit unsere Kinder in Ruhe vor den anderen spielen können.“, meinte Frau K.

„Jetzt bin ich zur Unaussprechlichen geworden.“ konstatierte Frau N. „Ich werde verachtet, was oft sehr weh tut. Doch tiefer schmerzt, daß meine Tätigkeit die Familien in Gefahr bringt. Wieviele Familienväter sind unter meinen Freiern…“

„… genau!“, fiel ihr Frau K. ins Wort, ihre Stimme überschlug sich fast, „Das verstehe ich nicht, wie kann jemand soooo tief sinken und vom Dienst an der Unaussprechlichkeit leben. Prostitution kann doch wohl nur jemand begehen, der sich über moralische und sittliche Werte nicht den leisesten Gedanken macht!“

Schreibe einen Kommentar