Sommer-Blues

Also, was soll ich sagen, es ist Sommer. Es ist warm. Sehr warm. Brü­tend heiß, um genau zu sein; und ich sitze zu Hause. Eigentlich woll­ten wir am Mittelmeer sein. Diese Insel, auf der wir vor zwei Jahren einen echt tollen Urlaub hatten.

SommerBlues.jpg

Dann sind wir hierher gezogen, weil Pa einen wichtigen Job hatte. Ir­gendetwas bei der Regierung oder so. Klar, da muss man in die Nähe der Hauptstadt ziehen. So wichtig, dass nicht einmal ein Urlaub mehr drin ist. Überhaupt, ich sehe Pa seit zwei Jahren kaum noch. Und wenn, dann tut er irre geheimnisvoll und sagt manchmal so tolle Dinge wie: “KB ist sich natürlich darüber im Klaren, dass das Ganze nicht in Einklang mit dem Außenwirtschaftsgesetz zu bringen ist.”

KB, wer soll das schon wieder sein: Katrin Baumgartner? Kübler-Baum­schulte? Kanzlerberater? Mir ist das echt zuwider. Wenn man was zu sagen hat, dann finde ich, sollte da eine Aussage drin stecken, Und wenn nicht, dann messe ich, Annika, dem “keine Bedeutung” bei. K.B., verstanden?

Jedenfalls ist K.B. indirekt mit dafür verantwortlich, dass ich hier wäh­rend meiner Sommerferien allein rumhocke, statt mir am Mittelmeer eine nahtlose Bräune zu holen. Die erste vielleicht in meinem Leben. Nein, natürlich ist das nicht das erste Mal, dass ich mich mit freien Oberkörper in die Sonne lege. Aber es wäre das erste mal gewesen, dass es mir so richtig wichtig gewesen wäre. Denn letztes Jahr wäre „nahtlos“ noch gar nichts Besonderes gewesen.

Überhaupt: Das letzte Schuljahr war irgendwie anders gewesen als frü­her. Es war das erste Mal, dass die Jungen nicht nur doof waren. Ir­gendwie hatten sie, wenn man sie nur intensiv genug studierte, auch interessante Seiten. Na gut, mein Bruder und seine doofen Freunde sind da definitiv die Ausnahme von der Regel!

Und was soll ich sagen, auch ich war irgendwie interessanter ge­worden. Die Schule machte mir jedenfalls auf eine neue, aufregende Art Spaß. Obwohl es mehr die Pausen waren, denen ich entgegen fieberte. Mathe und Physik hasse ich nach wie vor!

Und jetzt sind Ferien, die wichtigsten vielleicht in meinem Leben und ich hänge hier allein in dieser öden Neubausiedlung am Rande der Hauptstadt. Obwohl ich nicht ganz allein bin. Zwar sind alle halb­wegs interessanten Menschen im Urlaub, weil ihre Väter einfache, nor­male Jobs haben, aber Dennis ist noch da, mein keiner doofer Bruder, der im Spitzboden im Dach wohnt. Da sein Computergehäuse fast ständig ausein­andergeschraubt ist, denke ich manchmal, wielleicht wohnt er auch in diesem blau floureszierenden Tower.

Na ja, und klein ist er eigentlich nicht wirklich, immerhin ist er schon fast einen Kopf größer als ich, obwohl er ein Jahr jünger ist. Und richtig doof sicherlich auch nicht. Seine letzten Zeugnisse waren eher besser als meine. Aber deswegen kann man sich dennoch nicht mit ihm un­terhalten. Es sei denn man wäre ein Alien und könnte mit ihm darüber diskutieren, in welchem Mischungsverhältnis Materie und Antimaterie bei maximaler Energieausbeute ein Raumschiff vorantreiben können. Aber ernsthafte Diskussionen sind ihm einfach zuwider. Ich denke, mit fünfzehn sind Jungen einfach etwas beschränkt.

Mit Naike kann ich auch nicht reden, die ist ja erst zwei. Dabei er­zählt sie mir ständig etwas. Das ist zwar noch immer nur eine Andeu­tung von Sprache, aber immerhin verstehen wir in der Familie meist un­gefähr, was sie uns so aufgeregt über die Welt zu berichten weiß. Alle, außer Pa, der ist immer wieder fassungslos, wenn sie etwas sagt und wir darauf antworten. Er ist aber auch zu selten da, um sich an ihren singenden Dialekt zu gewöhnen.

Ist immer noch ungewohnt und ein wenig komisch, so eine kleine Schwester zu haben. Wenn ich mal selbst Kinder habe, dann können die mit ihrer Tante bestimmt eine Menge anfangen, weil sie dann noch ungefähr in ihrem Alter ist, aber mir hilft sie jetzt gar nicht bei meinem Sommer-Blues.

Dazu kommt, dass ich immer wieder auf die Kleine aufpassen muss, wenn Ma zum Joga ist, oder beim Töpfern, Epilieren oder Spanisch-Kurs. Alles das kann man natürlich nur in der Hauptstadt machen. Denn hier, wo wir wohnen ist es öder. Sagte ich das schon? Egal, es ist öde.

Als die von der Regierung beschlossen haben, die Hauptstadt um zu­ziehen und einmal quer durchs Land zu karren, und mein Pa laut und deutlich “Hier” geschrien hat und gleich hinterher gezogen ist, da war hier ein großes Loch. Davor, also früher standen hier – glaube ich – Kirschbäume und ganze Karawanen mit Trabbis haben sich hier auf der Landstraße die Reifen platt gestanden, um,wenn es schon keine bananen gab, wenigstens ein paar heimische Früchte zu bekommen. Wahrscheinlich eher die Fahrer, egal.

Als das Loch wieder zu war, standen hier so niedliche ziegelrote Doppelhäuser, eins wie das andere. Aber immer je zwei Hälften natür­lich spiegelverkehrt. Ist Euch das schon mal aufgefallen in diesen Doppelhaussiedlungen; wenn Ihr beim Nachbarn seit ist das Klo plötzlich auf der anderen Seite vom Flur! Ich finde das immer irre merkwürdig, obwohl ich doch bei Jessica schon so gut wie zu Hause bin. Jessica wohnt zwei Häuser weiter. Normaler weise, denn jetzt ist sie auf Elba.

Ihr Pa hat einen normalen Beruf. Ist Arzt im Krankenhaus und hilft al­ten Männer beim Pinkeln, hat Jessica mal gesagt. Ich habe dann nicht weiter nachgefragt, weil ich das auch nicht richtig spannend finde. Immerhin macht er Urlaub mit seiner Familie. Jedes Jahr!

Eigentlich habe ich mir immer einen Vater mit einem tollen Beruf ge­wünscht. Einen, den man sich vorstellen kann. In der Grundschule haben wir mal verschiedene Väter bei der Arbeit besucht. Ingrids Pa war Friseur! Der hatte zwar fast keine Haare mehr, aber ganz tolle Fri­surenmuster. Wir haben uns da lange aufgehalten, mit den Stühlen Karussell gespielt und uns Farben für unsere Haare ausgedacht.

Peters Vater hatte einen Trecker. Da waren die Jungen natürlich gar nicht mehr von runter zu kriegen. In seiner Not hat der dann alle mit zum Gülle ausfahren mitgenommen. Danach waren sie wohl etwas weniger begeistert von Traktoren, denke ich. Mich hat das kleine Kälb­chen besonders fasziniert, das am Tag zuvor geboren war. So süß, wirklich, mit diesen langen staksigen Beinen. Und wenn es den Kopf gereckt hat, war es schon größer als ich! Erst einen Tag alt und schon groß genug für die vierte Klasse!

Pa hat sich auch nicht lumpen lassen und alle in sein streng geheimes Ministerium eingeladen. Mir war das so peinlich! Nichts als Aktenord­ner. Ein Zimmer sah aus wie das andere, und überall waren Ordner, die mit seltsamen Zahlen beschriftet waren. Die Klassenkameraden haben mich noch lange Zeit gefragt: Wenn Dein Pa zur Arbeit geht, was macht er dann eigentlich?”

Ganz egal, was er macht. Es ist dafür verantwortlich, dass ich hier bin. Diesen Sommer in diesem öden Neubaugebiet. Seit zwei Jahren, sind wir hier. Überall in der Nachbarschaft ziehen die Leute nach kurzer Zeit wieder aus. Weil sie versetzt werden, oder weil sie ihren Job verlieren. Aber nicht so Pa, nein, er und sein Ministerium sind wie der Fels in der Brandung. Bei uns gegenüber ist die Familie auch schon vor vielen Mo­naten ausgezogen. War nicht so richtig schlimm für mich, weil die nur zwei kleine Kinder hatten, so im Alter von Naike und etwas älter. Nie­mand also, den ich extrem vermisse. Bei Jessica wäre das anders. Die vermisse ich ich schon, wenn sie im Urlaub ist, und ich nicht.

Habe ich Euch schon erzählt, dass wir dieses Jahr nicht in Urlaub fah­ren? Wir sind da, wo wir auch letztes Jahr waren. Nicht am Mittel­meer! Keine nahtlose Bräune, keine interessanten Erlebnisse, von denen man erzählen kann, wenn die Schule wieder anfängt. Schließ­lich ist Naike-Hüten nichts, wofür es Punkte gibt in den Pausengesprä­chen.

So sitze ich ganz gesittet mit Top und Shorts auf unserer gut einsehba­ren Terrasse und schmelze in der Sonne. Es ist bereits Mittag, aber Ma hat schon signalisiert, dass es erst am Abend etwas Warmes gibt. Ihr Joga-Kreis ist irgendwo in der Hauptstadt zu einer Ayurvada-Konferenz gefahren, weil ihr Trainer dort einen Vortrag hält. Dennis ist oben in seinem Zimmer und tötet gerade irgendwelche Aliens an seinem Computer. Ich kann sie durch das geöffnete Dachfenster platzen hö­ren.

Naike planscht in ihrem Swimmingpool aus bunten Gummiwürsten, das auf dem Rasen steht. Sie quiekt laut und vergnüglich und hält das auch sicher noch ein paar Stunden aus. Ganz anders als mein MP3-Player. Der Akku macht schon wieder schlapp…

Bewohner von Doppelhaushälften haben einen 75 Prozent Horizont, denn man kann aus ihnen nur nach drei Seiten raus schauen. Ist zwar eigentlich logisch, aber ich habe am Anfang echt überlegt, aus wel­chem Zimmer man das Haus von Jessica sehen kann. Das Problem ist, man kann es nicht.

Dafür kann man von der Terrassentür durchs Wohnzimmer, durch den Flur mit der Essecke und die Küche durch das Küchenfenster bis auf die Straße sehen und in den Garten des unbewohnten Nachbar­hauses gucken. Normalerweise.

Während ich durch die Terrassentür ins Haus gehe, um meinen Ohren einen neuen Satz Batterien zu gönnen, sehe ich also durch unser Haus hindurch und sehe völlig überraschend – einen Möbelwagen. Er ist wohl gerade angekommen, denn ich sehe Leute, die dessen hintere Türen öffnen und das Entladen vorbereiten.

Also vergesse ich den MP3-Player und die Akkus und laufe an meinem Zimmer vorbei einen Stock weiter in den Spitzboden, wo Dennis sein Unwesen treibt. Als ich durch die Tür komme sehe ich, wie er sich ge­rade einen neuen ChubbaChups in den Mund schiebt. Der Berg an Ein­wickelpapier unter seinem Schreibtisch verrät mir, dass es nicht die erste Kalorienbombe ist, die er heute seinem Organismus zuführt.

“Hast Du den Lieferwagen gesehen?” rufe ich leicht außer Atem vom Treppe steigen.

“Jo” entgegnet Dennis knapp, um dann zu ergänzen “Sprinter-Klasse, Hochdach, langer Radstand. Common-Rail-Diesel, Sechszylinder”

Ich sehe durch das gekippte Dachfenster. Der Lieferwagen glänzt merkwürdig in der Sonne. Irgendwie perlmuttfarben und gänzlich ohne irgendeinen Schriftzug, wie “Karls LKW-Vermietung” oder “Robert Wientje, Lieferwagen ab 5 Euro die Stunde” oder so.

“Merkwürdige Farbe” höre ich mich sagen. Im Hintergrund platzen weiter Aliens und ich weiß auch ohne Dennis anzusehen, dass es mir bisher noch nicht gelungen ist, seine Aufmerksamkeit über einem Grundrauschen zu fesseln.

“Ist keine Serienfarbe”, lautet sein Kommentar nach einer gewissen Zeit, in der offensichtlich sein taktischer Hirnbereich Teile des Sprach­zentrums mit Beschlag belegt hatte. Übertriebene Mausaktivität blo­ckiert Zungenfertigkeit. Irgendwann in der Evolution werden fünfzehnjährige Jungen einen eigenen Gehirnbereich bekommen, um ihren rech­ten Zeigefinger zu steuern, und dann klappt es auch wieder mit dem Sprechen beim Spielen.

Drei Leute zähle ich, die den Lieferwagen entladen. Zwei von Ihnen sind offensichtlich die Eltern. Der oder die Dritte ist der Größe nach zu ur­teilen, etwa in unserem Alter. Alle tragen Sie einfarbig weiße Overalls. Kleidsam, aber irgendwie doch auch unpraktisch bei einem Umzug, meine ich.

“Wo die wohl herkommen?”

Ich kann mich gar nicht satt sehen. Es fehlt gerade noch, dass ich mir ein Kissen für die Ellenbogen hole! Aber – endlich passiert hier mal was in unserer Straße. Vielleicht werden die Ferien ja doch gar nicht so öde, wie ich vorhin gedacht hatte. Vielleicht ist deren Tochter ja ganz nett und man kann sich mit ihr unterhalten. Momentan sind sie alle drei allerdings damit beschäftigt, Umzugskartons über den Garten und die Terrassentür ins Haus zu tragen.

“Holland oder Großbritannien!” erhalte ich zur Antwort, ohne dass Dennis auch nur einen Blick von seinem Monitor genommen hatte. Seine verdammte WebCam, schießt es mir durch den Kopf. Was er wohl mit seiner Elektronik noch alles im Blick hat? In dem Moment erhalte ich auch schon die Erklärung, dass die Kombination schwarz-gelb bei den Kennzeichen innerhalb der EU insbesondere für die beiden ge­nannten Länder sprächen.

Die Leute sind fleißig wie die Ameisen. Ein Karton nach dem anderen wird über den Rasen, die Terrasse ins Haus getragen und schon ist der Träger wieder beim Lieferwagen und holt den nächsten. Wie eine Ameisenarmee – alles wirkt geplant und präzise. Und alle Kisten sehen gleich aus. Keine Tüten oder Lampenschirme. Ist doch merkwürdig, oder? Sitzen die dann später auf den Kisten? Wo sind die Stühle?

“Wie merkwürdig die Kartons schimmern! Gar nicht so wie Wellpappe. Irgendwie glänzend.” Ich muss wohl laut gedacht haben. Für Dennis war es dennoch kein Grund, mir einen Vortrag über Nano­technologie zu halten. Winzig kleine, sich selbst reproduzierende Kris­talle bilden eine riesige Oberfläche, die dadurch eine besondere Kühl­wirkung entfaltet. So heizen sich die Gegenstände in den Kisten weniger auf, und man kann die Energie bei der Lagerung reduzieren, was im Sinne von Kioto durchaus sinnvoll sei.

“Kioto?”

“Die Selbstverpflichtung einer Vielzahl von Staaten, die so genannten Treibhausgase zu reduzieren.”

Der Perlmutteffekt deute auf einen Selbstreinigungseffekt des Lackes hin, den sich Chemiker vor einiger Zeit von der Lotuspflanze ab ge­guckt haben, und der ebenfalls ganz im Sinne Umwelt verträglicher Hightech stünde. Wenn man ihn einmal an gestachelt hat, ist mein kleiner Bruder einfach nicht zu bremsen. Als es dann um die Bedeu­tung der Nanotechnologie für das 21. Jahrhundert ging, habe ich mich leise zurückgezogen.

Natürlich hatte er auch keine Erklärung dafür, warum der Lieferwagen nicht beschriftet war. Vielleicht war ja die Lotusfarbe noch nicht tro­cken, oder was. Und warum sollten Leute ihre Umzugskisten beson­ders kühlen wollen? Dreieinhalb Tonnen Tiramisu kurz vor dem Umzug noch fertig geworden vielleicht? Eiervorräte für die nächsten hundert Jahre? So schön Dennis’s Erklärungsversuche auch immer sind, sie treffen die Kernfragen fast nie. Was sind das für Leute, die seit heute unsere neuen Nachbarn sind? Das ist doch mal eine spannende Frage, die man diskutieren könnte. Warum ziehen die so komisch um, in einem merkwürdigen Lieferwagen und mit sonderbaren Kisten und ohne Möbel und Lampenschirme.

Bei diesen Gedanken war ich dann schon an meinem Zimmer vorbei gelaufen und fast auf der Terrasse angekommen. Die Akkus hatte ich natürlich inzwischen völlig vergessen.

Und am Allerwichtigsten: Ist deren Tochter halbwegs nett. Und ist es überhaupt eine Tochter, oder muss ich befürchten, dass mich dem­nächst noch ein nanotechnologisch gebildeter Alien-Jäger mit Infomüll zutextet.

Draußen quiekt Naike. Willkommen Tristesse.

Schreibe einen Kommentar