Herrenkrug mit Dame

Sie saß am Küchentisch und starrte in den leeren Raum. Der Kompressor der Gefriertruhe beendete gerade erneut den Kampf gegen den Temperaturanstieg im Inneren und setzte sich leise gurgelnd zur Ruhe. Er würde in knapp dreißig Minuten erneut seinen Kampf aufnehmen müssen, doch Unermüdlichkeit war eine seiner Tugenden.
Sie würde dann immer noch regungslos am Tisch sitzen, die Arme auf die Tischplatte gestützt, und das Gesicht regungslos in die Mitte des Raums gerichtet. Hätte man, etwa mit einem Lineal, eine Verlängerung von ihrem Gesicht zu dem Punkt im Raum ziehen können, den ihre Augen sich beharrlich weigerten zu fokussieren, wäre einem jener Ball aus zerknülltem Papier aufgefallen, der dort lag und der offensichtlich für das dargebotene Szenario verantwortlich war. Zumindest verantwortlich in dem Sinn, wie Einladungen zu einem Abi-Treffen es nun mal gemeinhin zu sein pflegen.
Hätte nun der Betrachter der Szene die Fähigkeit, diesen Papierball wieder in den sorgsam gefalzten und kuvertierten Urzustand zurückversetzen, so wäre er hierdurch nicht sonderlich klüger. Es war ein normaler, durch den Computer personalisierter Serienbrief, wie ihn Finanzämter, Versicherungen und ganze Heerscharen von sonstigen Dienstleistern in rauen Mengen in unsere Briefkästen befördern lassen. Nur war dieser von keiner wie auch immer gearteten Institution verschickt, sondern wies als Absender einen Herrn Dr. Wagner auf. Obwohl er keine medizinische Diagnose enthielt, war der Inhalt doch ganz offensichtlich niederschmetternd.
Hätte nun der Betrachter der Szene gar den Inhalt zu lesen vermocht, hätte auch das nicht die ganze Tragweite der Dramatik, die von diesem Schreiben ausging, zu erhellen vermocht. In edler, dem Anlass des Schreibens angemessener Serifenschrift stand dort:
Lieber Ralf, anlässlich des zwanzigsten Jahrestages unseres Abiturs möchte ich den Jahrgang, der damals an unser ehrwürdigen Schule sein Abitur gemacht hat zu einem Treffen zusammenrufen. Wenn du Lust hast, Dich bei einem guten Essen und eventuell einem Glas Wein mit ehemaligen Klassenkameraden zu unterhalten, würde ich mich freuen, wenn Du Dir den 16. Mai freihalten könntest. Wir haben das Treffen auf einen Freitag Abend legen müssen, denn das Restaurant, das wir uns ausgewählt haben, ist im Mai recht ausgebucht. Das benachteiligt natürlich diejenigen etwas, die von weiter her anreisen, aber wir hoffen dennoch, dass Du es einrichten kannst, an unserem Treffen teilzunehmen.
Als ob sie bemerkt hätte, dass das Postgeheimnis in ihrem Beisein durch uns so schmählich gebrochen wurde, zuckte Karin erneut zusammen. Von einem Weinkrampf geschüttelt presste sie etwas wie „nicht-das-auch-noch-nach-allem-was-ich-durchgemacht-habe“ zwischen ihren Zähnen hervor.
Karin Beckmann, geborener Ralf Beckmann, wäre, wenn man die Zeichen richtig deutete, die erste Frau, die auf dem ehemaligen technisch, naturwissenschaftlich und neusprachlichen Gymnasium für Knaben das Abitur gemacht hätte. Erst wenige Jahre danach hatte sich die Lehranstalt für Mädchen geöffnet. Erst dann hatte es auch ordentliche Toiletten gegeben. Mit Schaudern dachte sie an das alte Pissoir auf dem Schulhof. Der imaginäre Geruch half nicht gerade ihre Stimmung zu erhellen.
Als erste Frau das Abitur an dieser ehrwürdigen Schule abgelegt zu haben, hätte ihr sicherlich den Sonderpreis für den spektakulärsten Auftritt eingebracht, sofern es einen solchen geben würde, aber gerade danach stand ihr nicht der Sinn. Zu lange Jahre hatte sie gekämpft, um gerade den Sonderstatus abzulegen, den ihre Geschlechtsanpassung mit sich gebracht hatte.
In den vergangenen Jahren hatte sie in den diversen Selbsthilfegruppen diverse Menschen kennen gelernt, deren Streben nach der anderen Geschlechtrolle untrennbar mit einer überdurchschnittlichen Extrovertiertheit verknüpft war. Diesen Männern und Frauen schien das Spiel mit changierenden Zwischentönen zu gefallen. Die bewusste Provokation mitunter gar als vorweggenommene Reaktion der Umwelt, um der erwarteten Entrüstung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ihr Ziel aber, und hier wusste sie sich in der Gruppe durchaus verstanden, war es, dieses Zwischenstadium so schnell und so gründlich wie möglich hinter sich zu lassen.
Sie fühlte, dass sie in dem Moment am Ziel ihrer Reise angekommen war, als sie Restaurants, Theater und Cafés betreten konnte, ohne dass ihr Gegenüber erst nach einer Weile der Beschlussfindung einen ersten Versuch unternahm, sie anzusprechen. Sie war so überglücklich inzwischen spontan als Frau angesprochen zu werden, dass ein großer Auftritt das letzte war, wonach ihr momentan der Sinn stand.
In diese Stille der Gedanken surrte plötzlich erneut der Kompressor als unerbittliches Metronom des Halb-Stunden Takts. Karin richtete sich auf. Ihre erste Reaktion war gewesen, das Anschreiben zu ignorieren. Um den Brief mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“ and den Absender zurück zu senden, war es zu spät. Sie besah sich den Knäuel aus Papier, der auf dem Küchenfußboden lag. Ignorieren freilich konnte sie den Brief natürlich immer noch.
„Was Dominik wohl macht?“ Insgeheim hatte sie schon länger mit dem Gedanken gespielt, den alten Kontakt wieder aufleben zu lassen. Sie waren in der Oberstufe ein gutes Gespann gewesen. Ralf, dem das Abi-Wissen nur so zufiel, und Dominik, der mit seiner jovialen Art ihr oder hier besser ihm den Rücken freigehalten hatte, so dass erst gar nicht der Anflug von Strebertum auf ihm lastete. Dominik war es gewesen, der sich dafür stark gemacht hatte, dass sie in die Gruppe aufgenommen und integriert worden war. Das war, nach dem sie in der Mittelstufe bei der Mannschaftsauswahl für die Ballspiele immer als Vorletzter gewählt worden war, eine neue und positive Erfahrung gewesen. Nur der dicke Schröder war regelmäßig nach ihr aufgestellt worden.
Bedankt hatte sie sich bei Dominik kurz vor den Abi-Klausuren, als es um die Zulassungsnoten ging. In einer für Dominik entscheidenden Arbeit hatte Karin ihm die Lateinübersetzung zum Abschreiben zugeschoben. Sie? selbst hatte sich dann kurz vor der Abgabe noch zwei Fehler eingebaut. So erreichte Dominik dann die entscheidenden 14 Punkte. Sie konnte die 11 Punkte verschmerzen, die ihr die beiden Fehler und einer, den sie unbeabsichtigt gemacht hatte, eingebracht hatten. Weil aber fast alle im Kurs damals diesen Fehler gemacht hatten, ging der Plan dennoch auf und das Schummeln wurde nicht entdeckt.
Dominik hatte dann wohl begonnen, Maschinenbau mit Schwerpunkt Kfz-Technik zu studieren, das hatte er sich zumindest vorgenommen, erst nach seinem Studium, hatte er immer wieder verkündet, wollte er in die Firma seines Vaters einsteigen. Karins Weg führte über verschiedene Universitäten nach Süddeutschland. Waren die Kontakte am Anfang trotz der recht großen Entfernung noch recht häufig, so änderte sich das schlagartig, als Dominik Sandra kennen lernte. Irgendwie schien sich spontan eine Rivalität zwischen ihr und Karin anzubahnen. Eine Rivalität, die keine von beiden damals so recht einzuordnen wusste, denn schließlich schlummerte Karin zu dieser Zeit noch unsichtbar unter der Schale von Ralf – so unvorstellbar das für sie heute auch schien.
Karin schmunzelte, zum ersten Mal seit Stunden. Sie wischte sich die Reste der inzwischen angetrockneten Tränen aus den Augenwinkeln. Zuversicht war zu ihr zurückgekommen. Sie würde auch diese Schwierigkeit meistern; so wie sie die anderen Aufgaben in den letzten Jahren auch gelöst hatte.

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